Immer wieder was Neues - heute habe ich für euch einen Gastbeitrag von der wundervollen Liv Modes zu dem Thema, wie man authentische queere Charaktere schreibt.
Liv ist Mitbegründerin des Autor*innen-Netzwerkes #BerlinAuthors und außerdem Autorin überwiegend von Young Adult-Geschichten. 2017 erschien ihr Debüt "Anxo - Zwischen den Sphären", ein Science Fiction-Roman, der sich unter anderem mit dem Einfluss menschlichen Handelns auf die Erde auseinandersetzt. 2018 folgte ihre Romance-Novelle "Auf der anderen Seite der Sterne" über einen Jungen, der sich in seinen besten Freund verliebt. Ihr dürft gespannt sein - weitere Werke sind in Planung! Ansonsten findet ihr Liv hier auf ihrer Website, hier auf Twitter und hier auf Instagram. Und damit überlasse ich jetzt auch Liv das Wort, die selbst bisexuell ist und hier Tipps zum Schreiben queerer Charaktere gibt.
Viele nicht-queere Autor*innen trauen sich nicht, queere Charaktere zu schreiben, aus Angst, etwas falsch zu machen. Das ist natürlich schade, denn wenn es darum geht, die LGBTQIA*-Repräsentation in Medien zu stärken, sind wir auf jede Unterstützung angewiesen.
Darum möchte ich Ansatzpunkte aufzeigen, wie man queere Figuren authentischer schreiben kann. Natürlich kann ich nur eine grobe Übersicht geben und nicht alles trifft auf jede queere Person zu. Außerdem ersetzt dieser Text keine eigenständige Recherche und auch kein Sensitivity Reading.
Bevor wir anfangen – ich verwende „queer“ hier als Synonym für „sich als Teil der LGBTQIA*-Community identifizierend“. Die beiden Begriffe werden jedoch auch getrennt voneinander verwendet und nicht alle Leute in der LGBTQIA*-Community identifizieren sich als queer.
Allgemeine Konzeption
Zuallererst eine Faustregel: Behandle das Queersein deiner Figur wie alle anderen Eigenschaften auch – betrachte es als Teil des Gesamtbilds. Die Sexualität/Geschlechtsidentität eines Menschen prägt ihn, ist jedoch nicht sein einziges Charaktermerkmal. Wenn du eine queere Figur anlegst, gib ihr Stärken, Schwächen und eine Hintergrundgeschichte wie allen anderen auch. Ausführliche Charakterfragebögen können hier gut helfen.
Das Coming Out
Wir leben in einer Gesellschaft, in der es leider noch nicht egal ist, welche Sexualität und/oder Geschlechtsidentität jemand hat. Queerfeindlichkeit existiert. Und manchmal kommt sie aus Richtungen, aus denen man es nie erwartet hätte. Außerdem gibt immer noch erschreckend viele Gegenden auf der Welt, in der Menschen wegen ihrer Sexualität diskriminiert, verhaftet oder sogar hingerichtet werden können.
Mach dir also bewusst, dass das Coming Out eine sehr individuelle Erfahrung ist. Manche Menschen outen sich erst mit 65, andere nur vor ihren besten Freund*innen, andere nie. Außerdem ist ein Coming Out ein ständiger Prozess. Bei jedem neuen Menschen, den man kennenlernt, bei Arztbesuchen, beim Anruf bei der Versicherung – das sind alles Situationen, in denen queere Menschen unter Umständen ständig neu entscheiden müssen, ob sie sich outen möchten und ob es sicher ist.
Wenn du also nicht Own Voice bist (d.h. selbst Teil der marginalisierten Gruppe, über die du schreibst), dann mach dir bewusst, dass du diese sehr spezielle Erfahrung vermutlich nie so nachvollziehen und beschreiben kannst wie Betroffene. Wenn deine Geschichte sich also hauptsächlich um den Selbstfindungsprozess und/oder das Coming Out drehen soll, dann überleg bitte noch einmal, ob du wirklich die richtige Person bist, um sie zu erzählen.
Oder kurz: Funktioniert die Geschichte auch ohne das Queersein deiner Figur? Wenn nicht, siehe vorheriger Absatz.
Bonusfakt an dieser Stelle: Negative Outings passieren. Leider. Und sie sind schlimm. Aber sie passieren zum Glück nicht immer. Sie werden in Geschichten mit queeren Figuren jedoch häufig als Konfliktpunkte oder Plottwists verwendet. Ja, es gibt die erzkonservativen Rednecks im tiefsten Süden der USA, die bei jedem Regenbogen das Holzkreuz hervorholen. Aber das wissen queere Menschen selbst gut genug. Es wäre schön, ein paar positive Storys lesen zu können. Oder, wenn wir ganz ausgefallen unterwegs sind, sogar mal Geschichten, in denen das Queersein nicht mal Einfluss auf den Plot hat.
Der Alltag
Gehen wir mal davon aus, in deiner Geschichte geht es nicht um das Outing. Du weißt, ob und vor wem deine Figur geoutet ist und der Charakterfragebogen platzt aus allen Nähten.
Dann schauen wir uns an, in welchen Momenten sich der Alltag einer queeren Person von dem einer nicht-queeren Person unterscheidet.
Ein queerer Mensch kommt selten allein
Vielleicht hast du schon einmal vom „schwulen besten Freund“ gehört. Dieses Stereotyp beschreibt das Phänomen, dass die einzige queere Figur in einer Freund*innengruppe ein schwuler Cismann ist, dessen einzige Aufgabe der emotionale Support der – meist weiblichen – Hauptfigur ist (und natürlich liebt er Shopping und Mode -.-). Das ist erstens schädliche Repräsentation und zweitens schlichtweg falsch.
Queere Menschen finden sich. Es ist normal, dass man sich tendenziell eher mit Menschen umgibt, die einem ähnlich sind. Es gibt Freund*innengruppen, in denen keine einzige Person nicht-queer ist!
Das heißt nicht, dass du unbedingt deinen ganzen Cast queer schreiben musst. Aber du könntest zum Beispiel die anderen queeren Freund*innen einbauen, die Person XY noch hat.
Angst vor Queerfeindlichkeit
Je nachdem, wo man lebt, steigt oder sinkt die Wahrscheinlichkeit für queerfeindliche Übergriffe (sowohl verbal als auch körperlich), aber ausgeschlossen sind sie nie. Selbst wenn man nie etwas derartiges erlebt hat, internalisieren queere Menschen oft die Angst davor.
Und Queerfeindlichkeit fängt nicht erst bei körperlicher Gewalt, unangemessenen Angeboten oder bestimmten Begriffen an, die einem hinterher gerufen werden (und die du niemals, niemals in deinem Text oder sonst irgendwo verwenden solltest!). Auch Blicke oder nett gemeinte Kommentare können verletzend sein.
Ein Beispiel, wie du das in deinem Manuskript einbauen kannst:
Jani wollte gerade erzählen, was Aaron schon wieder
angestellt hatte, als Mia plötzlich ungewohnt abwesend wirkte. Ihr Blick folgte
einem Mann in einer Bomberjacke und derben Stiefeln, der an den beiden
vorbeiging.
„Alles okay?“, wollte Jani wissen und runzelte die Stirn.
Mia zögerte, bis der Typ um die nächste Ecke gebogen war, bevor sie nickte und
ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre beste Freundin richtete.
„Der Typ hat nur so komisch auf meine Pride-Buttons geschaut. Entschuldige. Was
hast du gesagt?“
Glücksmomente
Stell dir folgende Situation vor: Du gehst durch einen Park und siehst zwei Männer, die Händchen halten. Ist dir egal? Dann bist du vermutlich nicht queer.
In meinem Kopf dagegen (ich bin eine bisexuelle Cisfrau) hüpft in solchen Momenten eine Miniatur-Version von mir von einem Bein aufs andere, klatscht in die Hände und freut sich wie ein Honigkuchenpferd. Ich habe dann immer das Bedürfnis, eine Regenbogenfahne rauszuholen und herumzuwedeln: „Ey! Ich auch!“
Mache ich natürlich nicht. Aber jedes Mal, wenn ich ein gleichgeschlechtlich gelesenes Paar in der Öffentlichkeit sehe, an einem Fenster eine Regenbogenfahne hängt oder in einer Werbung ein Kind zwei Mütter hat, werde ich daran erinnert, dass ich nicht allein bin und einen Platz in dieser Gesellschaft habe.
Common queer experiences
Wie gesagt, die Erfahrungen jeder queeren Person sind individuell. Hier jedoch noch ein paar häufige Erfahrungen, Situationen etc. als Anreiz, deine Figuren authentisch aufzubauen:
- politischer Aktivismus, auch über das Queersein hinaus
- Filme/Serien schauen, nur weil eine queere Figur darin vorkommt
- Flaggen/andere Dinge in den Farben unserer Sexualität/ Geschlechtsidentität besitzen
- sich absichtlich „klischeehaft“ kleiden
- sich Situationen vor dem Coming Out zurückdenken, in denen klar war, dass man queer ist, und sich dann fragen, wieso man es nicht schon früher realisiert hat
- der Selbstfindungsprozess begann damit, dass man nur ein seeehr engagierter Ally war
Klischees
Please. Don't.
Klischees haben in gewisser Hinsicht ihre Daseinsberechtigung und im Kern sicher einen Funken Wahrheit. Aber wenn es um die Repräsentation von marginalisierten Gruppen geht, dann überlass das Spielen mit ebendiesen Klischees bitte den Betroffenen selbst.
Eine gute Übersicht über die gängigsten Tropes findest du
hier.
Den realen, klischeefreien Alltag queerer Menschen erfährst du am besten von den Betroffenen selbst. Wenn du dich entschieden hast, welche Sexualität und/oder Geschlechtsidentität deine Figur/en hat/haben, kannst du gezielt nach Menschen suchen, die genau darüber berichten.
Soziale Medien sind fabelhaft dafür. Du kannst auf Twitter, Instagram oder TikTok nach den jeweiligen Hashtags suchen. Darüber findest du schnell Leute, deren Inhalte sich um ihre Erfahrungen mit ihrem Queersein drehen.
Bonuspunkt: Du bekommst ein Gespür über die jeweilige Kultur. Denn ja, es gibt eine queer culture. Es gibt sogar für einzelne Sexualitäten eigene Kulturen. Pass hier aber wieder auf, dass du keine Klischees reproduzierst.
Ich hoffe, ich konnte ein bisschen weiterhelfen. Vor allem möchte ich dir eines mitgeben – trau dich! Ja, möglicherweise machst du Fehler. Das ist nur menschlich. Lern daraus und versuch es nochmal. Ich verspreche dir, es macht dich zu einer*m besseren Autor*in!
Quelle Bilder (ausgenommen Titelbild): Liv Modes, Copyright & Urheber erstes Foto: n1cknow, Copyright & Urheber zweites Foto: liegt vor